Tagebucheinträge vom 15.4. bis 15.6.1945
Magdalene Seifert (ca. 1898–1972 in Wurzen)
18 Seiten, unpaginiert, Tinte auf Papier
H 17,4 cm x B 11,7 cm (geschlossen)
H 17,4 cm x B 23,5 cm (geöffnet)
Inv.-Nr. V1738S
Das kleine, dünne Heft enthält 18 handschriftlich beschriebene Seiten über die Geschehnisse zwischen dem 15. April bis 15. Juni 1945. Magdalene Seifert ist 47 Jahre alt als sie darin ihre Sicht auf die Ereignisse – das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Nationalsozialismus – festhält. Sie lebte bis 1972 in Wurzen und arbeitete als Sekretärin in den Krietschwerken.
Etwa zeitgleich mit den Räumungen von Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern, bei denen unzählige Häftlinge in den letzten Kriegstagen von der SS zu Todesmärschen gezwungen werden, beginnt Magdalene Seifert Ihre persönlichen Aufzeichnungen mit den Worten:
„Sonntag 15.4.1945 / Die amerikanischen Panzer sind im Anrollen. Sonntag abend alles in den Keller geräumt.“
„Montag 16.4.1945 / Früh ins Geschäft gegangen, dauernd Tiefflieger-Angriffe, gegen 10 Uhr Sirenengeheul 'Feindalarm'. [...] Feindliche Panzer bis an die Mulde vorgestoßen. Durch Sprengung sämtlicher Brücken dort aufgehalten. Alle Geschäfte sind geschlossen. Wurzen ist wie ausgestorben. Die Bewohner sind sämtlich im Keller. Der Feind wird erwartet. Verhandlungen mit Partei und Wehrmacht. Wurzen soll verteidigt werden. [...]“
Während benachbarte Städte wie Eilenburg nahezu vollständig zerstört werden und die sinnlos befohlene Verteidigung der Muldelinie hunderte Todesopfer fordert, wird Wurzen jedoch kampflos an die Amerikaner übergeben. Den Tag der Wurzener Kapitulation und die Ungewissheit der Bevölkerung fasst Magdalene Seifert in ihrem Tagebucheintrag vom 24. April zusammen:
„Wurzen verkauft weiter alles aus. Die Schlangen vor den Läden nehmen nicht ab. Der Russe rückt uns auch immer näher. Was wird unser Schicksal sein: 'Amerikaner oder Russe'? Heute Morgen 8 Uhr, welch Überraschung, ist die Stadt übergeben worden. Früh bin ich ins Geschäft gefahren, da waren schon auf der Kirche und in den Krietschwerken die weißen Fahnen gehisst. Eine Erleichterung zunächst einmal bei der Einwohnerschaft. Aber was kommt nun?“
Und am 1.5.45 dazu:
„Wie jetzt durch die Amerikaner bekannt wird sollte unser Städtchen am 24.4., den Tag der Übergabe, durch amerik. Bomber zerstört werden. Die Bomben standen schon bereit. 9.30 wäre Wurzen das Ziel gewesen. Die kampflose Übergabe war aber noch rechtzeitig erfolgt. Unser Bürgermeister hat sich sehr dafür eingesetzt. So haben wir wenigstens unsere Wohnungen behalten.“
Armin Graebert, seinerzeit Oberbürgermeister Wurzens und NSDAP-Mitglied, leitete mit US-Major Victor Conley am Morgen des 24.4.1945 die Kapitulation der Kleinstadt ein. Unterstützt wurde er dabei von Otto Schunke (SPD), Kurt Krause und Richard Beutel (beide KPD), sowie den Pfarrern Franz Wörner und Carl Magirius.
Plünderungen, gewalttätige Übergriffe und Vergewaltigungen durch Soldaten stehen im gesamten Land an der Tagesordnung.
„25.4.45 / Der Russe hat alles ausgeplündert. Die Krietschwerke waren das erste Opfer. Die Bevölkerung hat sich schamlos daran beteiligt. [...] Der Russe ist total betrunken. Es sind grauenhafte Zustände. Wie erzählt wird soll der Russe nach Wurzen kommen. Die Bevölkerung ist ganz kopflos. Die Amerikaner waren anständig. Heute im Laufe des Tages sind fast sämtliche Geschäfte von Wurzen ausgeplündert worden, wie Rahn, Geyer, Lauer u. Co, die Zigarrengeschäfte u. Bäckereien. Der Amerikaner meinte, daß es so in keiner Stadt gewesen sei.“
„6.5.45 / Es sind wieder grauenhafte Zustände hier. Plünderungen von Geschäften u. privaten Wohnungen nehmen Überhand. Unsere Krietschmühle ist von den Russen beschlagnahmt, der Betrieb stillgelegt.“
„8.5.45 / Heute ist durch Churchill die bedingungslose Kapitulation aller Deutschen verkündet worden. Es ist also 'Frieden'. Ein Frieden wie wir ihn uns anders vorgestellt hatten. Reichsminister Goepels [sic] hat sich mit seiner Frau und seinen Kindern vergiftet. Um Hitler schweben Gerüchte. Seine Leiche ist noch nicht gefunden. Selbstmorde von ehemaligen Parteiangehörigen sind keine Seltenheit hier in Wurzen.“
An diesem Tag endet der Zweite Weltkrieg in Europa. Magdalene Seifert hält ihre Beobachtungen in diesem Heft noch bis zum 15. Juni 1945 fest:
„1. Pfingstfeiertag / Die ganze Stadt ist mit roten Fahnen geschmückt. “
„2. Pfingstfeiertag / Dieser Tag verlief für die Wurzener ruhig. Der Russe saß auf den geschmückten Plätzen der Stadt und feierte den Sieg.“
„23.5. / Verhaftungen von ehemaligen Parteimitgliedern nehmen zu. Die ganze Stadt ist in Aufregung. Der Russe geht scharf vor.“
„30.5. / In der Mühle wird nur für den Russen gearbeitet. Alles muss schnell fertig werden. Sämtliche Radioapparate zieht der Russe ein.“
„15.6. / Aus der Mühle werden sämtliche Bestände von den Russen herausgeschafft. Viele Neueinstellungen mußten erfolgen, um die Arbeit zu bewältigen, die der Russe in kurzer Zeit verlangt. Unser Chef ist auch von den Russen verhaftet worden. Viele Wurzener werden jetzt herangezogen zum Herausreißen der Schienen, der Zugverkehr soll zurzeit nur eingleisig gehen. Die Schienen werden zu Ausbesserungsarbeiten benötigt.“
Das Kulturhistorische Museum Wurzen erhielt das Tagebuch im September 2023 als Schenkung von Magdalene Seiferts Großneffen Manfred Seifert. Seine Mutter war Verkäuferin im Warenhaus der Familie Luchtenstein in Wurzen, welches in der Reichspogromnacht zerstört wurde.
Quellen und Literatur:
Gey, Heinz, Wurzens Schicksalstage. Die letzten Kriegstage in Wurzen, Wurzen 2010.
Geyer, Martin H., Die Nachkriegszeit als Gewaltzeit. Ausnahmezustände nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020. Online-Ressource: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/303647/die-nachkriegszeit-als-gewaltzeit/
Blume, Dorlis; Wichmann, Manfred; Zündorf Irmgard, Chronik 1945, Lebendiges Museum Online, Deutsches Historisches Museum, Berlin 2021. Online-Ressource: https://www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1945